Warum du mit Menschen kein Mitleid haben solltest
Ja, der Titel wirkt im ersten Moment provokant - man möchte doch für andere da sein, wenn es ihnen schlecht geht. Keine Sorge, das sollst du auch. Doch es gibt einen wichtigen Gedanken, der es wert ist durchdacht zu werden, besonders, wenn man Menschen helfen möchte. Denn wie so oft liegt es nicht an der Motivation - wir wollen etwas tun, doch wir sollten den Preis im Hinterkopf behalten, den wir selbst dafür zahlen müssen. Wie du also immer für andere da sein kannst und trotzdem auch Selbstfürsorge betreiben kannst - das liest du heute in meinem Beitrag.
Wenn andere um uns herum leiden, empfinden viele das Bedürfnis helfen zu wollen - schließlich liegt uns das als Rudeltiere so nah, dass man es manchmal kaum aushalten kann nichts zu tun. Schreit zum Beispiel ein Baby, empfinden vor allem Mütter den nicht niederkämpfbaren Drang, sich um das kleine Menschlein zu kümmern und den Schmerz zu lindern oder die Bedürfnisse zu stillen. Wenn unsere beste Freundin einen schlechten Tag hatte, stehen wir bereit, hören uns an, was sie erlebt hat und versuchen, die Sonne wieder ein bisschen scheinen zu lassen. Was viele aber dabei bemerken ist, dass sie das selbst auslaugt und herunterzieht.
Eine der am positivsten bewerteten Eigenschaften eines Menschen ist ihre:seine Empathie - sie hilft uns, Schmerz und Trauer unserer Mitmenschen nachzuvollziehen und auch Freude mitzuempfinden. Dass aber nicht nur Glück ansteckend ist, kann manchmal sehr anstrengend sein - lassen wir uns zu sehr auf die Gefühle der anderen ein, machen wir sie zu einem guten Stück zu unseren eigenen. Wir "leiden" mit den Betroffenen und sind dabei mal mehr und mal weniger "betroffen", wie wir das auch nennen, wenn wir mit einem anderen mitfühlen können. Wenn wir also die Probleme unseres Umfelds zu unseren eigenen Problemen machen - und sei es nur zum Teil - fügen wir diese Gefühle unseren eigenen Herausforderungen hinzu. Das kann eine ganze Weile gut gehen und wir können weiter eine Schulter zum Ausweinen bieten. Es wird aber der Tag kommen, an dem uns das Ganze zu viel werden kann, wir spüren selbst das Gefühl von Trauer oder Antriebslosigkeit und sind nicht mehr so positiv und gut gelaunt.
>>Es ist edel, für Menschen da sein zu wollen<<
Spätestens dann ist der Moment gekommen, an dem wir nicht mehr für die da sein können, die uns gerade brauchen, ganz einfach weil unser emotionales System auch völlig überlastet ist. Interessanterweise sind oft diejenigen, die immer ein offenes Ohr für andere haben, wiederum nicht in der Lage, sich so leicht anderen zu öffnen. So staut sich das negative Gefühl so lange an, bis wir nicht noch mehr mitleiden können. Das ist für unsere Mitmenschen ganz schön frustrierend, weil wir plötzlich nicht mehr zuhören können oder wollen. Das ist ein bisschen so wie mit den Sauerstoffmasken im Flugzeug: Wir ersticken, wenn wir uns die Maske nicht zuerst selbst aufsetzen, um dann allen anderen Passagieren zu helfen. Es ist edel, für Menschen da sein zu wollen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir es nicht auf die eigenen Kosten tun müssen.
Das ist der Grund, warum Psycholog:innen und Coaches so großen Wert darauf legen, immer noch etwas Distanz zwischen sich und ihren Patient:innen oder Klient:innen zu bringen. Es ist wie ein Stück frische Luft, um zwischendrin einfach mal zu Atem kommen zu können. Täten sie es nicht, wären sie nicht in der Lage ihren Job so gut zu machen. So wirkt es sich auch auf die Qualität ihrer Beratung und Behandlung aus, wenn sie einen Schritt zurückgehen: Stehen wir zu dicht an einem Problem, können wir es schlecht überblicken und abschätzen und eine gewisse Neutralität gewährleistet eine professionelle Herangehensweise. Doch wir müssen nicht kalt und teilnahmslos sein - im Gegenteil: Ich plädiere dafür, dass wir das Mitleid gegen Mitgefühl tauschen.
>>Mitgefühl ist eine Win:Win-Situation<<
Mitgefühl bedeutet, dass man den Schmerz des anderen nachvollziehen kann - ohne ihn zu dem eigenen zu machen. Es ist der Blick durch die Augen des anderen, ohne dabei die von der Trauer oder Verzweiflung getrübte Wahrnehmung zu besitzen. Interessanterweise wirkt sich der Unterschied sogar körperlich aus. Das Gehirn unterscheidet nämlich nicht zwischen tatsächlich erfahrenem Leid und Mitleid - wir bekommen also eine ähnliche Dosis an Stresshormonen ab und verändern die Verbindungen in unserem Gehirn - was dazu führt, dass wir schlechte Laune und negative Emotionen "erlernen". Mitgefühl hingegen gibt uns positive Gefühle und Botenstoffe, weil wir als Rudeltiere von unserem System belohnt werden, wenn wir anderen helfen. Während Mitleid also niemanden hilft, ist Mitgefühl eine Win:Win Situation für alle.
Doch es geht nicht nur den besten Kumpel, die Geschwister oder die Kollegin, die mal jemanden zum Reden braucht. Stellen wir das Radio oder den Fernseher an, lesen wir Zeitung und sehen die Nachrichten, werden wir mit Leid und Elend überflutet. Auch hier wirkt dieser Effekt. Viele meiner Kund:innen berichten mir davon, wie sich die letzten Monate negativ auf ihre psychische Verfassung ausgewirkt haben - sie sind antriebslos, bedrückt und erleben aufrichtige Trauer. Diese Form von Mitleid ist zutiefst nachvollziehbar und niemand ist ganz davor gefeit - vielleicht können wir aber auch hier mehr Mitgefühl entwickeln als mitleiden und dadurch mehr Antrieb und Energie schöpfen, um unseren Teil zur Lösung beizutragen.
Wie du siehst, ist es ein kleiner Unterschied, der sich aber sehr deutlich in deinem Leben bemerkbar machen kann. Es ist schön, wenn du ein guter Mensch sein möchtest und du bist damit ein Teil einer besseren Welt, in der niemand allein mit ihren:seinen Problemen dasteht. Vielleicht hilft dir dieser Artikel, das ein oder andere zu überdenken, um mit noch mehr Energie und Freude zu helfen. Es würde mich freuen, wenn auch du dir die Last von den Schultern nehmen lässt. Mal so nebenbei: Unsere Gefühle sind so kompliziert und unsere Emotionen so komplex, wir werden wohl unser Leben lang an ihnen arbeiten dürfen. Es ist okay, wenn du mal überfordert bist. Wie soll ich sagen: Fühl ich.