Alles zu seiner Zeit
Fotos: Laura Schlowak, Florian Beier
Ich stehe am Meer. Oder zumindest da, wo ich das Meer erwartet habe. Gerade noch bin ich über die Düne gestapft und habe mich auf den Ausblick gefreut - doch das Wasser ist nicht zu sehen. Nur ganz weit am Horizont, gefühlte Kilometer weit entfernt, glitzert ein silberner Streifen. Davor liegt eine matschige Landschaft aus Sandbänken, Muschelstücken und Schlick. Die Erklärung ist einfach: Ich bin zur falschen Zeit gekommen, um das Meer zu sehen.
Die Natur hat ihren unbestechlichen Rhythmus, die Gezeiten eben, die eine Küstenlandschaft binnen Stunden komplett verändern können. Tag und Nacht, Winter und Sommer. Warum glaube ich manchmal, dass ich mich als Teil dieses Systems aus dem Konzept "Timing" einfach so ausklammern kann? Wir sind es eben gewöhnt, dass wir kriegen was wir wollen, zu jeder Zeit und zu den Bedingungen, die wir wir uns wünschen. Das ist zumindest so, wenn wir beim Online-Händler bestellen oder uns unsere Einkäufe nach Hause bringen lassen. Wir können in den Supermarkt gehen und das ganze Jahr über Dinge kaufen, die nicht immer heimisch sind, weil wir sie von überall her bekommen können. Schließlich ist immer irgendwo auf der Welt Sommer. Doch was macht das mit uns?
>>Der Garant für persönliche Krisen<<
Ehrlich gesagt kenne ich das besser als ich zugeben möchte. Manchmal kann ich eben bestimmte Dinge nicht aus dem Handgelenk schütteln, die an anderen Tagen so leicht fallen, dass ich beinahe nicht glauben kann, dass ich ein und dieselbe Person bin. Ich erwarte von mir, dass immer irgendwie Sommer ist. Es ist doch normal, dass ich immer auf Knopfdruck Sinnvolles schreiben kann, sportlich Höchstleistungen bringe, gute Laune habe und dass mir Stress nicht viel anhaben kann, oder? Diese Erwartungshaltung ist der Garant für persönliche Krisen. Eigentlich muss mir doch klar sein, dass eben alles einer gewissen Saison unterworfen ist. Wie kann ich lernen, dass ich meine Gezeiten respektiere?
Der erste Schritt kann darin liegen, seinen eigenen Rhythmus kennenzulernen. Wann bin ich konzentriert genug, um zu schreiben und wie kann ich mit der Gestaltung meiner Umgebung dazu beitragen? In welchen Intervallen sollte ich Pausen machen und mich bewegen? Wie ernähre ich mich so, dass ich möglichst viel Energie habe, wenn ich sie brauche? Wann ist meine Ebbe und wann ist meine Flut? Wie beweglich sind diese Zeiten? Was hilft mir, so richtig auf Touren zu kommen? Je genauer ich das beobachte und dokumentiere, desto mehr Gefühl bekomme ich dafür, wie ich als Maschine Mensch funktioniere. Ich kann lernen, mich nach meinem Bauch und meinem Körper als Ganzes zu richten, um zu erkennen, was meine Bedürfnisse sind. Welche Krisen habe ich bereits überstanden und wie bin ich daraus herausgegangen? Eigentlich einfach und zugleich ziemlich komplex. Es gibt nämlich einiges an Ablenkung.
>>Vielleicht ist nicht alles wahr<<
Doof ist zum Beispiel, dass ich mich immer wieder mit anderen vergleiche. Um uns herum leben nämlich scheinbar nur Übermenschen, die ihre immer gute Laune auf Social Media präsentieren und neben einer Selbstständigkeit und Kindern auch gerade noch einen Van ausbauen, um als digitale Nomaden durch die Welt zu fahren. Vielleicht ist das aber nicht alles wahr und vielleicht das auch egal - es sind andere Menschen als wir selbst. Unser Rhythmus, unser Leben sieht womöglich etwas anderes vor. Ich darf achtsam sein, was es mit mir macht und herausfinden, was mein Ding in der Welt ist. Meinen Weg zu meiner Zeit zu gehen bedeutet auch, sich von klassischen Karrierepfaden zu verabschieden. Willst du mit Mitte 50 nochmal studieren? Kinder mit 21 oder Ende 30? Eine komplett neue Karriere in den letzten zehn Jahren des Berufslebens? Vielleicht ist das ja deine Zeit.
Lernt man dieses Vertrauen in seinen eigenen Weg und seinen eigenen Puls, dann begreift man vielleicht noch etwas anderes die Zeit betreffend: Jede Zeit hat seine Dauer. Jeder Beginn kommt nach einem Ende. Vielleicht gehst du ja gerade durch eine schwierige Phase, beruflich oder privat - oft ist es synchronisiert beides. Auch wenn man es nicht erkennen kann: Alles geht vorüber, kein Schmerz und keine Durststrecke bleibt für immer. Egal wie weit entfernt einem der Tag erscheint - er wird kommen. Während ich also den Strand entlang spaziere, meine Schuhe in der Hand und meinen Blick zum Horizont schweifen lasse, spüre ich ein Gefühl von Sicherheit in mir aufsteigen. Der silberne Streif ganz am Ende meines Sichtfeldes kommt näher. Das Prinzip Hoffnung. Das Meer kehrt zurück. Langsam zwar, aber unaufhaltsam.